Björk, Jens Friebe, Gaddafi Gals, Shygirl, »Hallo 22«: Album der Woche - DER SPIEGEL - DER SPIEGEL

Musikerin Björk

Musikerin Björk

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Vidar Logi / One Little Independant

Album der Woche:

Björk – »Fossora«

Nach einer längeren Reise durch Hyperräume voller Sphärenklänge ist die isländische Musikerin Björk wieder auf der Erde gelandet und zwar buchstäblich: War »Utopia« vor fünf Jahren ihr Eskapismusalbum, um dem Schmerz ihrer Trennung von Künstler Matthew Barney mit artifiziellen Flötentönen und Vogelzwitschern zu ent­fliehen, schürft ihr Comeback nun tief im Pilzbiotop einer »Fungal City« menschlicher Beziehungen nach Leben.

»Fossora«, so der aus dem Lateinischen entliehene Titel ihres neuen Albums, soll so viel bedeuten wie »die Grabende«. Björk betätigt sich also als Minenarbeiterin in den zuvor von Kummer verschütteten Schächten ihrer Seele. Aber auch als Totengräberin: Mit zwei getragenen, mythisch überhöhten Stücken und einer isländischen Folkweise nimmt sie Abschied von ihrer 2018 verstorbenen Hippiemutter – und sinniert über die Erfüllung ihrer eigenen Mutterrolle und die entsprechende Rezeption ihrer Kinder in der zärtlichen Ballade »Her Mother's House«, in dem auch Tochter Isádora »Doa« Bjarkardóttir Barney mitsingt, die gerade eine eigene Karriere als Musikerin, Schauspielerin und Model startet. Beide spielten übrigens gerade Minirollen im Wikinger-Actionfilm »The Northman«.

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Die meisten Songs auf »Fossora« handeln jedoch vom Aufbruch und Zulassen einer neuen Liebe. Differenzen und Makel, die man beim anderen scheut und betont, sind das nicht nur faule Aus­reden? »Hoffnung ist ein Muskel, der es erlaubt, uns zu verbinden«, ermutigt sich die 56-Jährige im Song »Atopos«. Passend dazu trainiert sie die Nahbarkeit ihrer Musik: Wer die auch bei dieser Veröffentlichung wieder mit umwerfend fantasievollen Visuals arbeitende Konzeptkünstlerin Björk für zu entrückt hielt, um noch zum Pop zurückzukehren, erlebt sie hier ganz häuslich und beherzt beim Umgraben ihrer Komfortzone. Was nicht heißt, dass Björks Arrangements an Komplexität eingebüßt hätten, im Gegenteil, sie sind nur wieder etwas greifbarer geworden.

Ein Sextett Bassklarinetten und von Björk selbst arrangierte Streicher leiten die Sängerin mit organisch-erdwarmem Druck behutsam brummend durch das Rhizom ihrer neu aufkeimenden, immer wieder zwischen Euphorie und Skepsis schwankenden Emotionen. Für nassforschen Vortrieb sorgt in einigen Stücken der aus den Neunzigerjahren gebuddelte, elektronisch aufrüttelnde Hardcore-Techno-Sound des indonesischen Avantgardeduos Gabber Modus Operandi – ein zunächst irritierender, aber durch physisch spürbaren Lärm auch durchaus kathartischer Clash aus feinem, analogen Orchesterschmelz und Presslufthammer-Elektronik. Ein größerer Kontrast zu den beiden vorherigen Alben ist kaum denkbar, aber so war es immer schon in Björks inzwischen sehr langer, aber nie langweiligen Reise an die Grenzen der Popmusik und darüber hinaus.

Wenn »Utopia« ein magischer Rückzugsort war, sagte sie kürzlich dem »Guardian«, dann zeige »Fossora«, was passiere, wenn die Realität dort einbreche: »Lass mal sehen, wie es ist, wenn du in dieser Fantasie zu Mittag isst und danach furzt.« (8.5)

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Kurz abgehört:

Jens Friebe – »Wir sind schön«

Er könnte das Herz jeder Party sein: Der in Berlin lebende Musiker und Songwriter veröffentlicht alle vier Jahre ein neues Album mit klug verspielten Hymnen an den absurden Alltag. Sein siebtes ist sein bisher optimistischstes, er selbst nennt es »antinihilistisch«. Man kann sich Friebe also vorstellen, wie er früh morgens, wenn die alkoholisierten Gespräche Richtung Doom und Depression driften, sich die Tischordnung auflöst und der Discjockey schon Toto spielt (»Das Ende aller Feiern«), den Glitzeranzug gerade zupft und sich an den ja immer irgendwo zufällig rumstehenden Synthesizer setzt: Da spielt er dann beschwingten Soul oder elaborierten Pop, in Hamburg und an Heaven 17 geschult. Zum Anteasern lockt er Druffis mit einer dann doch satirisch gedrehten Ode an die »Microdoser« und gibt Leonard Cohens »First We Take Manhattan« auf Deutsch. Dann schwenkt er in ein melancholisches Sozialdrama (»Die schrumpfende Stadt«), bespiegelt mit klopfenden und hämmernden Sounds die allgemeine Erschöpfung im Spätkapitalismus (»Das Nichtmehrkönnen«) und die ideologische Selbstgerechtigkeit der Kiez-Bubble (»Sing It To The Converted«), bis er uns alle mit schamanischem Groove doch noch »frei« spricht. Am Ende zückt er eine Plastiktrompete, startet das Bossa-Nova-Preset und mahnt uns, »bitte nicht nach Haus« zu gehen, denn »in allen Betten liegt der Tod«. Na schön. (7.9)

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Gaddafi Gals – »Romeo Must Die«

»This shit is here to loop«, suggeriert der erste Track gleich selbstbewusst, bevor er aus einem Gitarren- und Trap-Rap-Nebel in den sweetesten R&B kippt, den man von heimischen Musiker:innen derzeit zu hören bekommt. Tatsächlich möchte man das nach drei Jahren Pause nun zweite Album der Gaddafi Gals sogleich im Endlos-Loop laufen lassen. In der Zwischenzeit hat Sängerin Nalan ihr sehr gutes Debütalbum veröffentlicht, Rapperin Ebow wurde zuletzt mit »Canê« zu einer der profiliertesten migrantischen und feministischen Stimmen im deutschen Hip-Hop, Produzent und Programmierer walter p99 arkestra, Leipzigs Timbaland, feilte unterdessen an seinem jetzt noch eleganteren Sound aus Trip-Hop, Trap und Millennial-R&B. Die Single »Bye Bye« lässt auf jeden Fall nachdrücklich Grüße an Justin Timberlake ausrichten. Als Hommage an eine Pop-Prinzessin aus dieser Zeit, die früh verstorbene Aaliyah, darf man auch das gesamte Album verstehen: In der Shakespeare-Adaption »Romeo Must Die« hatte sie 2000 ihre erste große Kinorolle, bevor sie ein Jahr später im Alter von 22 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Das Titelstück ist entsprechend großes Drama, der Vibe weniger avantgardistisch und abrasiv als das Debüt »Temple«. Aber die beiden Frontfrauen sind auch im sinnlichen Pop- und Groove-Modus immer noch in der Lage, schnell den Mittelfinger in die Gegenwart zu recken, wie in »MDLFGRS (Like That)«. Heavy rotate this shit. (7.7)

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Shygirl – »Nymph«

Auch Blane Muise alias Shygirl bezieht sich auf ihrem in der Szene lange erwarteten Debütalbum immer wieder auf den melodisch fließenden R&B der späten Neunziger- und frühen Nullerjahre, ein Sound der nach 20 Jahren wieder en vogue ist. Erwartet hätte man allerdings, dass Shygirl, eine der zentralen Figuren des sogenannten Hyperpop-Genres, ihre musikalischen Einflüsse erneut durch klangliche Häcksler und Teilchenbeschleuniger jagt, wie zuletzt auf ihrer radikal sexpositiven und akustisch herausfordernden EP »Alias«. Gleich der erste »Nymph«-Track »Woe« überrascht jedoch mit einer schockierenden Softness und will sich analog zum Songtext in einen Emo-Kokon versiegeln, statt alle Körper- und Phantasiesäfte wild spritzen zu lassen. »Come For Me« (produziert von Arca) lockt dann jedoch gleich wieder mit jenen Pop-Brechungen und Glitches, die Shygirl zusammen mit ihrem Partner Sega Bodega auf ihrem eigenen Label Nuxxe kultiviert hat oder zusammen mit PC-Music-Kolleg:innen wie A.G. Cook oder der leider verstorbenen Sophie versuchsweise in den Mainstream überführen wollte. Mit »Nymph« könnte ihr nun als erster Künstlerin dieses futuristischen Untergrund-Sounds genau das gelingen, wenn subversive, hinreißend versaute Tracks wie »Shlut« oder »Coochie (A Bedtime Story)« sich aus dem Untergrund-Labor in die Charts oder auf den Dancefloor säuseln. (8.0)

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Various – »Hallo 22 – DDR-Funk und-Soul 1971-81«

Die Ostdeutschen hatten das mit dem Soul besser raus als die Westdeutschen, meint der aus Heilbronn stammende Rapper Dexter in einem Statement zu der kenntnisreichen und sehr coolen Compilation von Funk- und R&B-Nuggets des DDR-Labels Amiga, die er zusammen mit seinem zehn Jahre älteren Stuttgarter Kollegen und Deutschrap-Paten Max Herre kuratiert hat. Dexters Einschätzung ist so richtig wie auf der Hand liegend: Wer in einem repressiven System leben muss, fühlt den existenziellen Schmerz, der den afroamerikanischen Soul durchwirkt, vermutlich intensiver. So lesen sich Zeilen aus »Alle Wege« vom Dresdner Ekkehard Sander Septett (1972) wie nur oberflächlich ins Private codierte Fluchtgedanken: »Alle Wasser kühlen nicht die Sehnsucht nach dir/ Scheinen Ufer noch so ferne, fern bis an den Rand der Sterne.« Beim Prestigelabel Amiga genoss man in den Siebzigerjahren nicht alle, aber viele Freiheiten – und war mit den besten Produktionsbedingungen ausgestattet.

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In diesem Biotop schuf Komponist und Arrangeur Günther Fischer mit Künstler:innen wie Holger Biege, Uschi Brüning, Uve Schikora und natürlich Manfred Krug opulent orchestrierte, pointiert groovende Musik, die Herre und Dexter, beide früh zu Fans gewordene Wessis, auf Flohmärkten ausgruben und als kostbare Raritäten feierten. Auf dem Album, das zum 75. Amiga-Jubiläum erscheint und im Titel an den ersten Amiga Sampler »Hallo Nr. 1« erinnert, versammeln sie nun verblüffend viele Songs von Frauen (auch das hatte man in der DDR besser drauf), darunter das an »Aquarius« angelehnte »Schönhauser« von Veronika Fischer, die Betty-Davis-gerechte Funk-»Kutte« von Angelika Mann oder Uschi Brünings frühen Discotrack »Hochzeitsnacht«. Den Schulterschluss zwischen DDR-Soul und BRD-Hip-Hop vollziehen Herre und Dexter auf zwei neuen Tracks mit eigener Beteiligung, einer Rap-Version des Ost-»What’s Going On« von Pantha Rei, »Aus und vorbei«, sowie eine die Jahrzehnte und deutsch-deutsche Künstlerbiografien transzendierende Version der Ballade »Das war nur ein Moment« von Manfred Krug. Essenzieller geht es kaum. (9.0)

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

Mittwochs um Mitternacht (0.00 Uhr) gibt es beim Hamburger Webradio ByteFM  ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte. Seit 1. Januar 2022 sendet ByteFM in Hamburg auch auf UKW (91,7 und 104,0 MHz).

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